Kollabiert die deutsche Autoindustrie?

Strukturwandel, Coronavirus-Pandemie, Halbleiter-Mangel: Die deutsche Automobilindustrie bewältigt diese Krisen mit Bravour, die Konzerne fahren 2021 Rekordgewinne ein. Doch der Krieg in der Ukraine trifft die Branche ins Mark. Das Problem ist simpel, aber kurzfristig auch nicht lösbar.
Denn schon jetzt ist die Lage der deutschen Autoindustrie ernst, sehr ernst sogar. Die Gefährdungslage hat sich substanziell verändert. Zwar kündigte sich ein Ende des freien Welthandles mit allen schädlichen Wirkungen auf eine so stark exportabhängige Branche bereits zu Zeiten von US-Präsident Donald Trump mit all den Schikanen, Handelsembargos und Sonderzöllen an. Damit wurde die deutsche Schlüsselindustrie aber fertig. Da war Zeit und Raum für geordnete und beherrschbare Standortmaßnahmen.
Doch diesmal hat die Gefährdung eine andere Qualität: Schiebt man die PR-Presseverlautbarungen der Hersteller über Rekordgewinne im Jahr 2021 und gigantischer Investitionsprogramme einmal beiseite und hört auf den "Flurfunk" in den Konzernzentralen, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Nie in der Nachkriegszeit - selbst während der Ölkrisen und Sonntagsfahrverbote nicht - war die gesamt Branche, über die ganze Wertschöpfungskaskade hinweg, so nahe am kollektiven Kollaps wie derzeit.
Die Krux mit den Kabelbäumen
Ursache ist ein Materialmangel nie gekannten Ausmaßes - im Brennpunkt stehen Kabelbäume aus der Ukraine - und teilweise auch ein Mangel an seltenen Rohstoffen wie etwa dem Edelgas Neon. Mag letztere Lücke noch irgendwie überbrückbar erscheinen, führt die fortschreitende Unterbrechung der Zulieferung von Kabelbäumen zu einer einzigartigen Bedrohung der gesamten automobilen Wertschöpfungskette hierzulande. Die Wachstumsprognosen für die gesamt Wirtschaft wurden bereits drastisch reduziert.
Kabelbäume aus der Ukraine sind gegenwärtig für die deutsche Autoproduktion unverzichtbar. Die Lage ist dabei wesentlich brisanter als im Vorjahr, als zunehmende Lieferengpässen aus Asien bei den strategisch ebenfalls wichtigen Speicherchips auch temporär zu Produktionsunterbrechungen bis hin zu zeitweiligen Werkschließungen und Kurzarbeit geführt haben. Aber das waren eben nur Lieferengpässe, keine totalen Lieferausfälle, wie sie sich gegenwärtig bei den Kabelbäumen aus der Ukraine abzeichnen. Dieser drohende Totalausfall geht an die Substanz der Branche, denn Kabelbäume sind keine Standardware, sondern hersteller- und modellspezifisch, Kundenwünschen entsprechend maßgeschneidert. Kabelbäume sind zudem nicht nachrüstbar: Sind sie nicht vorhanden, können Autos nicht gebaut werden und die gesamte Wertschöpfungskette steht still.